Living Wages (auf Deutsch so viel wie existenzsichernde Löhne) bezeichnet das Mindesteinkommen, das ArbeiterInnen benötigen, um Ihre Grundbedürfnisse zu decken und ein menschenwürdiges Leben zu führen. In der Textilindustrie leben Millionen von ArbeiterInnen oft in Armut für die hohen Gewinne in der Branche, obwohl das Recht auf einen existenzsichernden Lohn in Artikel 23 der UN-Menschenrechtskonventionen festgelegt ist.
Gemäß den UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte (UN Business and Human Rights Due Diligence) hat ein Unternehmen eine Sorgfaltspflicht. Das bedeutet, dass Unternehmen die Verantwortung haben, für faire Löhne zu sorgen.
Die Praxis sieht anders aus: Die Durchschnittslöhne sind zwei bis fünf Mal niedriger, als das nötig wäre, damit die ArbeiterInnen und ihre Familien ein menschenwürdiges Leben führen können. Das kann auch dann der Fall sein, wenn die Firmen die gesetzlichen Mindestlöhne des Produktionslandes einhalten.
Was muss ein existenzsichernder Lohn abdecken?
Der Unterschied zwischen existenzsichernden Löhnen und Mindestlöhnen ist, dass der Mindestlohn eine gesetzlich verankerte Lohnuntergrenze beschreibt, während sich die “living wage” an den tatsächlichen Lebenshaltungskosten orientiert. Lebenshaltungskosten sind das, was wir tagtäglich zum Leben benötigen, inklusive einem Budget für Notfälle. Gerade in der Textilbranche ist die Differenz zwischen dem Mindestlohn und dem existenzsichernden Lohn groß.
Die laufenden Untersuchungen der gemeinnützigen Organisation Clean Clothes von zeigen, dass die Bedingungen für ArbeiterInnen in der Textilbranche noch immer höchst prekär sind. Trotz der gesteigerten Sensibilisierung der Gesellschaft und den zahlreichen Kampagnen kann keine große Bekleidungsmarke nachweisen, dass alle ArbeiterInnen in der Lieferkette einen existenzsichernden Lohn erhalten. Ein Problem, das nicht nur in asiatischen Fabriken besteht, sondern auch in den europäischen Niedriglohnländern verbreitet ist.
Die Bekleidungsindustrie hat sich in den letzten 15 Jahren verdoppelt, schätzungsweise arbeiten rund 60 Millionen Angestellte auf der ganzen Welt in diesem Sektor.
Globale Modemarken erzielen jedes Jahr hohe Gewinne, doch für die meisten der ArbeiterInnen bedeutet dieser Beruf Armut. Doch warum werden in der Textilbranche keine Living Wages bezahlt?
Die Gründe sind mindestens so komplex wie die Branche. Ein Problem ist die fehlende Regulation: Die Marken agieren global, während die Gesetze lokal greifen. Daraus entsteht das sogenannte „Race to the bottom”, die Marken versuchen sich in ihren Preisen gegenseitig zu unterbieten. Passt ein Land seine Gesetze an, wechseln die Akteure in ein anderes Billiglohnland mit niedrigeren Standards.
Somit setzen sie die Regierungen unter Druck, die Outsourcing, also die Auslagerung in andere Länder verhindern möchten. Existenzsichernde Löhne sind nur dann möglich, wenn die Marken genug bezahlen, dass die Fabriken ihre Produktionskosten angemessen decken können.
Das zeigt die Preisgestaltung in der Bekleidungsindustrie. Der Handelspreis für ein Shirt wird „Top down” – von oben nach unten – bestimmt. Das bedeutet, dass die Marken berechnen, wie viel die KonsumentInnen für das Produkt bezahlen werden und welche Gewinnspanne somit zu erwarten ist. Vom Endpreis müssen Marke, Handel, Zwischenhändler, Transport und die Fabrik bezahlt werden, weder Löhne noch Produktionszeit wird dabei berücksichtigt. Für die ArbeiterInnen bleibt am Schluss nicht mehr viel übrig.
Auf globaler Ebene gibt es keine Regulationen für die Marken, die alle Arbeitsschritte und alle Beteiligten einschließen. Die KonsumentInnen wohnen meist in einem anderen Land mit einem anderen Rechtssystem als die ArbeiterInnen. Auch die allgemeine Erklärung der Menschenrechte hat keine rechtlich bindende Wirkung.
Zudem ist die Textilindustrie extrem wettbewerbsorientiert: Billige Preise und schnelle Liefertermine üben zusätzlichen Druck auf die Löhne aus. Die Lieferketten sind lang und unübersichtlich, außerdem reichen sie über weite Distanzen. Das mindert das Vertrauen, was dazu führt, dass Geschäftsbeziehungen in der Bekleidungsindustrie kurzlebig sind. Die Marken suchen stets nach der höchsten Gewinnspanne und wechseln die Geschäftspartner schnell.
Dadurch ist es schwierig, die Verantwortlichkeit überhaupt nachzuvollziehen und damit die Akteure für ihr Handeln verantwortlich zu machen. Es kommt kaum vor, dass die Marken ihre ArbeiterInnen selbst einstellen, was es einfacher macht, die Verantwortung an andere abzuschieben.
Zurzeit argumentieren FabrikbesitzerInnen, dass sie wegen den tiefen Preisen, die der Käufer bezahlt, auch die Löhne niedrig halten müssen. Wer sich dagegen auflehnt, muss damit rechnen, den Arbeitsplatz zu verlieren – einen Umstand, den sich die ArbeiterInnen nicht leisten können. Die Folge davon ist Lohndumping, die Löhne werden weiter gedrückt.
Wer aber legt den existenzsichernden Lohn fest? Es gibt kein globales Gremium und die Höhe des Lohns, der ein Mensch für ein würdiges Leben benötigt, unterscheidet sich von Land zu Land. Die Clean Clothes Campaign (CCC) fordert einen Nettolohn von mindestens 60 Prozent des nationalen Durchschnitts ohne Überstunden oder sonstige Zuschläge.
Was einen existenzsichernden Lohn für Asien bedeutet, hat die Asia Floor Wage Alliance berechnet. Die Allianz umfasst asiatische Gewerkschaften und Vereinigungen von ArbeiterInnen, auch die Clean Clothes Campaign ist Teil davon. Die Formel basiert auf folgenden Annahmen:
Um das zu ändern, müssen sich die Unternehmen zu fairen Einkaufspraktiken verpflichten. Das hat sich auch das Textilbündnis, eine Multi-Akteurs-Partnerschaft aus Deutschland, auf die Fahnen geschrieben, um die Arbeitsbedingungen in der globalen Textilproduktion zu verbessern.
Fairness beginnt bei der Berechnung: Durch die Angabe eines existenzsichernden Lohns können die Preise so kalkuliert werden, dass die Produktionskosten angemessen gedeckt sind. Dafür muss die Preisgestaltung in der Branche angepasst werden, das sogenannte „Bottom up” ist in der Textilindustrie noch wenig verbreitet, allerdings können Marken gerade durch solche „Better Purchasing Practices“ größte Veränderungen erreichen. Bei dieser Methode steht die Frage nach den Kosten für das Material sowie die Arbeit am Anfang der Rechnung und stellt die Grundlage für den Endpreis.
Die Fair Wear Foundation hat ein Tool entwickelt, mit dem berechnet werden kann, wie sich eine Lohnerhöhung für die ArbeiterInnen auf die Produktkosten eines Kleidungsstücks auswirkt. Damit sollen sich die Dynamik der Preisverhandlungen zwischen Marken und Fabriken ändern. Durch diese Praxis können auch die Regierungen den Mindestlohn auf einen Existenzlohn anheben, ohne dass sie die Abwanderung von Fabriken riskieren müssen.